Gehre ich hier wirklich hin? (Das Imposter-Syndrom, das fast jede Lehrkraft kennt)
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Gehre ich hier wirklich hin? (Das Imposter-Syndrom, das fast jede Lehrkraft kennt)

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Fr Lehrkrfte, die sich fragen, ob sie wirklich qualifiziert, fhig oder "die Richtigen" fr diesen Beruf sind. Die Stimme, die dir sagt, du seist nicht gut genug? Sie erzhlt dir nicht die Wahrheit.

10 min read

Es ist dein drittes Jahr im Schuldienst. Du stehst im Kopierraum, als zwei sehr erfahrene Kolleg:innen anfangen, sich ber Unterrichtsplanung zu unterhalten. Sie verweisen ganz nebenbei auf pdagogische Theorien, von denen du noch nie gehrt hast, teilen Strategien, die unglaublich durchdacht klingen, und lachen ber Classroom-Management-Techniken, die bei ihnen scheinbar ganz selbstverstndlich funktionieren.

Du nickst mit, hoffst, dass du kompetent wirkst - aber innerlich flstert eine vertraute Stimme:

_"Sie wissen, dass du hier nicht hingehrst. Du tust nur so, als wrst du eine echte Lehrkraft."_

Spter, in der Dienstbesprechung, bittet die Schulleitung um Freiwillige, die Lehramtsanwrter:innen betreuen mchten. Wieder meldet sich diese Stimme:

_"Wer bist du, dass du jemand anderem beibringen willst, wie Unterricht geht? Du bist doch selbst noch dabei, alles herauszufinden."_

Wenn dir diese Stimme bekannt vorkommt, erlebst du etwas, das etwa 95 % aller Lehrkrfte kennen - aber nur selten darber sprechen: das Imposter-Syndrom.

Das Gefhl, ein "Fake" zu sein

Imposter-Syndrom ist dieses hartnckige Gefhl, eigentlich nicht wirklich qualifiziert zu sein; als httest du irgendwie alle getuscht, damit sie denken, du seist kompetent - und jeden Moment knnte jemand "herausfinden", dass du gar nicht gut genug bist.

Im Unterrichtsalltag klingt das zum Beispiel so:

_"Ich wei die Hlfte der Zeit nicht, was ich da mache."_ _"Alle anderen wirken so viel organisierter als ich."_ _"Ich improvisiere stndig und hoffe, dass es niemand merkt."_ _"Die Eltern denken bestimmt, ich habe keine Erfahrung."_ _"Meine Schler:innen htten jemanden Besseren verdient."_

Die Wendung in der Geschichte lautet:

Die Lehrkrfte, die sich wie "Imposter" fhlen, sind hufig genau diejenigen, denen gute Arbeit besonders wichtig ist.

Warum gerade der Lehrerberuf das Imposter-Syndrom frdert

Die unerreichbare Messlatte

Unterrichten ist einer der wenigen Berufe, in denen oft ein perfekter Anspruch mitschwingt - den niemand erfllen kann. Du sollst jede:n Schler:in erreichen, fr alle Lernstnde differenzieren, Verhalten souvern steuern, klar mit Eltern kommunizieren, fachlich und didaktisch up to date bleiben - und das am besten so, als wre es ganz leicht.

Kein Wunder, dass sich viele wie Betrger:innen fhlen.

Die "Solo-Performance"

Whrend in vielen Berufen im Team gearbeitet wird, bist du im Unterricht oft auf dich gestellt. Du triffst tglich hunderte Entscheidungen allein im Klassenraum - ohne direkte Rckmeldung oder Besttigung. Du siehst andere nur selten unterrichten. Es ist leicht zu glauben, alle anderen htten alles im Griff.

Das stndig bewegte Ziel

Bildung verndert sich fortlaufend: neue Studien, neue Lehrplne, neue Technologien, neue Projekte. Gerade wenn du das Gefhl hast, etwas wirklich zu beherrschen, kommt die nchste nderung. Es ist ein bisschen so, als wrdest du auf ein Ziel zielen, das sich stndig weiterbewegt.

Die Vergleichsfalle

Soziale Medien machen es nicht leichter: Instagram mit perfekt dekorierten Klassenrumen, Pinterest voller kreativer Ideen, Facebook-Posts ber Unterrichtserfolge - schnell wirkt es so, als wrden alle anderen "gewinnen", whrend du dich eher nach "berleben" fhlst.

Das geheime Innenleben "perfekter" Lehrkrfte

Was die beeindruckend organisierte Kollegin am Ende des Flurs _nicht_ in den sozialen Medien postet:

  • Sie hat gestern nach einer misslungenen Stunde im Auto geweint
  • Sie verwendet seit drei Jahren dieselbe Unterrichtsreihe, weil sie sich gerade berfordert fhlt, etwas Neues zu entwickeln
  • Sie sa bis Mitternacht an Korrekturen und hat jeden Kommentar noch einmal hinterfragt
  • Sie hat letzten Dienstag um 2 Uhr morgens "Was tun bei massivem Widerstand im Unterricht?" gegoogelt
  • Sie fhlt sich manchmal wie ein "Fake", wenn Eltern sie fr ihren Unterricht loben
Die Lehrkrfte, die nach auen am souvernsten wirken, kmpfen oft mit ganz hnlichen Zweifeln wie du.

Die Wahrheit ber Unterrichtserfahrung

Lehrkrfte im ersten Jahr denken: "Ich habe eigentlich keine Ahnung." Lehrkrfte im dritten Jahr denken: "Ich wei inzwischen etwas - aber alle anderen wissen mehr." Lehrkrfte im fnften Jahr denken: "Ich werde besser, aber ich habe noch so viel zu lernen." Lehrkrfte im zehnten Jahr denken: "Je mehr ich lerne, desto klarer wird mir, wie viel ich noch nicht wei." Lehrkrfte mit zwanzig Jahren Erfahrung denken: "Ich bin immer noch dabei, herauszufinden, wie es gut geht - aber entspannter als frher." Und der Plot-Twist: Das Gefhl verschwindet nicht komplett. Es verndert nur seine Form.

Was das Imposter-Syndrom falsch einschtzt

"Ich bin nicht qualifiziert."

Realitt: Du hast eine Ausbildung, ein Studium, ein Referendariat oder vergleichbare Wege hinter dir. Du erfllst die Voraussetzungen. Du BIST qualifiziert.

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"Alle anderen sind besser als ich."

Realitt: Jede Person hat Themen, mit denen sie ringt. Manche gehen einfach anders damit um oder haben andere Strken.

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"Ich improvisiere nur."

Realitt: Dich im Moment an Lernende, Situation und Stimmung anzupassen, ist keine "Planlosigkeit" - es ist professionelle Flexibilitt.

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"Ich habe diesen Job nicht verdient."

Realitt: Du wurdest eingestellt, weil jemand dein Potenzial gesehen hat. Du darfst dieser Einschtzung vertrauen.

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"Meine Schler:innen leiden unter meiner Unerfahrenheit."

Realitt: Deine Haltung, deine Frsorge und deine Bereitschaft zu lernen wiegen oft mehr als vollstndige Routine. Niemand ist am Anfang "fertig".

Das Paradox guter Lehrkrfte

Es klingt widersprchlich, aber:

Lehrkrfte, die sich fragen, ob sie gut genug sind, sind hufig genau diejenigen, die es sind.

Lehrkrfte mit Imposter-Syndrom:

  • suchen regelmig nach Mglichkeiten, sich zu verbessern
  • reflektieren ihr Handeln
  • kmmern sich ernsthaft um Lernerfolg und Wohlbefinden der Schler:innen
  • sind ehrlich mit sich selbst, was Grenzen und Lernfelder angeht
  • investieren viel Energie, gerade weil sie nicht davon ausgehen, "von Natur aus perfekt" zu sein
Viel gefhrlicher sind diejenigen, die sich nie Fragen stellen und alles als selbstverstndlich ansehen.

Die innere Stimme neu rahmen

Statt: "Ich wei nicht, was ich tue."

Eher: "Ich bin auf dem Weg und lerne jeden Tag dazu."

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Statt: "Alle anderen knnen das besser."

Eher: "Alle bringen unterschiedliche Strken mit. Meine entwickeln sich gerade."

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Statt: "Ich enttusche meine Schler:innen."

Eher: "Ich gebe mein Bestes mit dem Wissen und den Ressourcen, die ich habe - und ich entwickle mich weiter."

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Statt: "Ich darf niemanden ausbilden, ich bin selbst unsicher."

Eher: "Ich habe wertvolle Erfahrungen, die anderen helfen knnen - auch wenn ich noch nicht perfekt bin."

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Statt: "Ich bin keine richtige Lehrkraft."

Eher: "Ich wachse in die Lehrkraft hinein, die ich sein mchte."

Beweise gegen deine innere Anklage

Wenn das Imposter-Syndrom dich "vor Gericht" stellt, kannst du diese Belege fr dich sprechen lassen:

Beweis A: Du gehst jeden Tag wieder in die Schule - auch an den schweren Tagen. Beweis B: Du machst dir genug Gedanken, um deine eigene Wirksamkeit in Frage zu stellen. Beweis C: Du holst Rckmeldungen ein und probierst neue Wege aus. Beweis D: In deinem Unterricht findet Lernen statt - vielleicht nicht immer perfekt, aber sprbar. Beweis E: Du bist durch Situationen gegangen, an denen andere zerbrochen wren. Beweis F: Kolleg:innen vertrauen dir - manchmal bitten sie dich um Rat oder Austausch. Beweis G: Du hast mindestens einem Kind oder Jugendlichen das Gefhl gegeben, gesehen oder verstanden zu werden. Urteil: Du gehrst hierher.

Deine berufliche Identitt aufbauen

Fhre ein "Erfolgsheft"

Schreib dir jeden Tag _eine_ Sache auf, die gut lief. Nicht perfekt - einfach gut. Zum Beispiel:

  • ein kleiner Durchbruch bei einem Kind, das sich sonst zurckhlt
  • eine Stunde, die stimmig war
  • ein Dankeschn von Eltern
  • ein kurzer Moment echter Verbindung mit der Klasse

Sammle positive Rckmeldungen

  • Hebe Dankesbriefe von Schler:innen auf
  • Mach Screenshots von wertschtzenden Mails
  • Dokumentiere Lernfortschritte - auch kleine
  • Sammle Rckmeldungen aus Hospitationen oder Beurteilungen
  • Notiere Stze, in denen Kolleg:innen dir Vertrauen aussprechen

Finde deine eigene Lehrer*innen-Stimme

Hr auf, die Lehrkraft sein zu wollen, von der du glaubst, _dass du so sein solltest_ - und erlaube dir, die Lehrkraft zu werden, die du bist. Deine Persnlichkeit, deine Strken, deine Art mit Menschen umzugehen - das sind keine "Fehler", sondern Bausteine deiner Professionalitt.

Feiere kleine Schritte

  • Die Schlerin, die dich heute angelchelt hat
  • Die Stunde, die "grtenteils" funktioniert hat
  • Die Elternmail, die du ruhig und klar beantwortet hast
  • Der Tag, an dem du Schlerverhalten nicht persnlich genommen hast
  • Der Moment, in dem du fr eine Kollegin oder einen Kollegen da warst

Der Prozess des "Zur-Lehrkraft-Werdens"

Ein unausgesprochener Teil der Wahrheit ber diesen Beruf:

Niemand startet als "fertige" Lehrkraft. Man wchst hinein - ber Jahre, durch bung, Reflexion und viele kleine Lernschleifen.

Jede erfahrene Lehrkraft war irgendwann genau an dem Punkt, an dem du dich heute vielleicht befindest: unsicher, lernend, Fehler machend und sich fragend, ob sie wirklich dazugehrt.

Der Unterschied ist nicht, dass die Unsicherheit irgendwann komplett verschwunden ist. Der Unterschied ist: Sie haben trotzdem weiter unterrichtet.

Ein Brief an dein zweifelndes Herz

_Liebe Lehrkraft, die sich wie ein "Fake" fhlt,_

_du bist keine Hochstaplerin und kein Hochstapler. Du tust nicht nur so. Du tuschst niemanden._

_Du bist ein Mensch, der einen der anspruchsvollsten Berufe der Welt ausbt - und du tust das, weil du daran glaubst, dass Kinder und Jugendliche lernen und wachsen drfen._

_Deine Zweifel sprechen dir nicht deine Eignung ab - sie zeigen, wie wichtig dir deine Arbeit ist._ _Deine Unsicherheit macht dich nicht schwach - sie macht dich offen fr Weiterentwicklung._ _Deine Fragen beweisen nicht, dass du ungeeignet bist - sie zeigen, dass du nachdenkst._

_Du gehrst in diesen Klassenraum. Deine Schler:innen brauchen genau das, was du mitbringst - nicht Perfektion, sondern Echtheit, Engagement und Zugewandtheit._

_Hr auf, darauf zu warten, dich "bereit" zu fhlen. Hr auf, darauf zu warten, dich "sicher" zu fhlen. Hr auf, darauf zu warten, dich wie eine "richtige" Lehrkraft zu fhlen._

_Du bist es bereits._

_Herzlich, jemand, der deinen Weg sehr gut versteht._

Fr morgen

Wenn diese innere Stimme das nchste Mal flstert: "Du gehrst hier nicht hin", erinnere dich daran:

  • Zugehrigkeit hat weniger mit Perfektion zu tun als mit deinem Warum
  • Kompetenz wchst mit bung - sie wird nicht einfach mitgegeben
  • Jede Expertin und jeder Experte war einmal Anfnger:in
  • Deine Schler:innen brauchen dich - nicht eine ideale, fehlerlose Version von dir
  • Zweifel sind kein Beweis fr Unfhigkeit - sie sind ein Zeichen dafr, dass dir dein Beruf wichtig ist
Du bist kein Imposter. Du bist eine Lehrkraft in Entwicklung. Und genau das ist der Ort, an dem du gerade sein darfst.

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Die Lehrkrfte, die sich selbst am kritischsten hinterfragen, sind oft genau diejenigen, die am meisten dazugehren. Dein Zweifel ist keine Disqualifikation - er ist Ausdruck deiner Professionalitt und deines Engagements.

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ber den Autor: Dr Greg Blackburn ist Lernforscher und Grnder von Zaza Technologies. Zaza wurde gemeinsam mit aktuellen und ehemaligen Lehrkrften entwickelt, die den Schulalltag aus eigener Erfahrung kennen - und wir mchten Lehrkrften helfen, klger statt lnger zu arbeiten. Dieser Text ist inspiriert von Menschen im Bildungsbereich, die gelernt haben: Imposter-Syndrom ist kein Beweis dafr, dass man "nicht genug" ist - sondern ein Zeichen fr hohe Ansprche und echte Verbundenheit mit dem Lehrberuf. ```
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